STUTTGART – In einem früheren Artikel wir hatten die Unentschlossenheit Deutschlands unterstrichen, das sich einerseits an westlichen Positionen orientierte, andererseits bemüht war, gute Beziehungen an der Ostfront zu wahren und seine Energieinteressen zu schützen. Der Widerspruch könnte auf zwei Wegen gelöst werden: durch eine Rebellion gegen die NATO oder durch die Überschreitung des Rubikons mit Russland.
Deutschland hat den zweiten Weg gewählt: Am 26. Februar verurteilte die Regierung den Einmarsch in die Ukraine mit sehr scharfen Worten ihrer Hauptvertreter (Scholz, Baerbock). Gleichzeitig versprach er, 1.000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger nach Kiew zu schicken. Es ist nicht klar, wie dieses Material zusammen mit den anderen „Geschenken“ aus halb Europa von der ukrainischen Armee ohne angemessene Ausbildung verwendet werden kann (aber das ist wahrscheinlich mein Problem).
Am Tag darauf kündigte Bundeskanzler Scholz in einer historischen Rede vor dem Bundestag eine einmalige Spritze von 100 Milliarden Euro in den Verteidigungshaushalt an, um die Bundeswehr zu stärken, die in den letzten Jahrzehnten von Vorgängerregierungen „ausgeblutet“ worden war (die Argumente u verwendete Vergleiche sind denen, die in Italien für das Gesundheitssystem verwendet werden, überraschend ähnlich). Scholz versprach auch, den Verteidigungshaushalt auf 2 % des BIP (rund weitere 30 Milliarden) auszurichten und kam damit den Forderungen des US-Verbündeten nach.Die Verpflichtung Deutschlands zur Erhöhung des Verteidigungshaushalts muss in die Verfassung aufgenommen werden, damit es nicht einfach sein kann beim nächsten Regierungswechsel untergraben.
Die Kehrtwende der deutschen Politik verdient eine Reflexion über die Faktoren, die sie ermöglicht haben. Der erste ist zweifellos der Schrecken der Invasion in der Ukraine, der über die mehr oder weniger verschwörerischen Argumentationen darüber hinaus, wer schuld ist, bei allen Menschen ohne psychopathische Züge objektiv Angst und Bestürzung auslöst.
Der zweite Faktor ist die einstimmige Verurteilung Putins durch alle offiziellen Medien, von Zeitungen bis zum Fernsehen, einschließlich Facebook und YouTube. Ein Tsunami, eine kompakte Wand aus Tönen, Bildern und Worten, die auf die Öffentlichkeit traf und Hunderttausende Menschen in Berlin und anderen deutschen Städten auf die Straße brachte. Diese Elemente sind auch vielen anderen europäischen Ländern gemeinsam.
Der dritte Faktor ist meiner Meinung nach eher „typisch Deutsch“ und wird durch die historische Chance repräsentiert, das Stigma abzuschütteln Nationalsozialismus, die bis vorgestern das kollektive Unbewusste der Nation quälten. Die Aggression der russischen Armee hatte nicht nur die Vertreibung des Coronavirus von den Titelseiten der Zeitungen zur Folge, sondern auch den Transfer des Nationalsozialismus von der zeitlichen Dimension des Unvollkommenen in die der fernen Vergangenheit. Putin ist an die Stelle Hitlers in der Rolle des Diktators getreten, Symbol des absolut Bösen und des letzten Staatsoberhauptes, das einen Krieg auf europäischem Boden entfesselt hat. Eine aus psychologischer Sicht unumgängliche Gelegenheit, Auschwitz endgültig zu begraben und endlich an der Seite der Guten einen Fuß auf die Bühne der Geschichte zu setzen.
Eine Musik außerhalb des Chores kommt von der Gruppe der sogenannten „Putinversteher“, die viele Jahre und bis vor wenigen Tagen die Beweggründe des russischen Präsidenten unterstützten. Der Beginn der Militäroperationen hat die Putinversteher bestürzt und sie vor eine peinliche Wahl gestellt: Putins Krieg unterstützen oder zugeben, dass sie sich geirrt haben.
Ein Beispiel ist Sarah Wagenknecht, Ehefrau von Oskar Lafontaine, dem Gründer der Partei.“die linke“ (entsprechend einer unserer kommunistischen Parteien N) sowie ein prominentes Mitglied derselben Fraktion. Im Interview mit der „Welt“ sagte Wagenknecht, dass die Ereignisse der letzten Tage zwar schrecklich seien, aber nicht automatisch zu einem Wettlauf um die Aufrüstung führen dürften. Sein auf Druck des Journalisten mühsam formulierter Vorschlag sieht vor, Russland zum sofortigen Rückzug aus der Ukraine aufzufordern und im Gegenzug seine Neutralität anzubieten. Eine nicht ganz abwegige Idee, die aber in diesen krampfhaften Stunden vom linken Flügel Che Gueveras zu kommen scheint.
Ein berühmtes psychologisches Experiment, bekannt als der „Asch-Konformitätstest“, könnte dabei helfen, Putinverstehers (und andere) Position zu erklären. Das Versuchsprotokoll sieht die Anwesenheit von 8 Versuchspersonen vor, von denen 7 Mitarbeiter des Versuchsleiters ohne Kenntnis der achten (Versuchsperson) sind. Der Experimentator präsentiert eine Strichzeichnung und fragt die Probanden, beginnend mit den Komplizen, was am kürzesten ist (ich vereinfache aus Platzgründen).
Nach ein paar „normalen“ Wiederholungen beginnen die Komplizen einstimmig und offensichtlich falsch zu reagieren. Der eigentliche Proband, der als Letzter oder Vorletzter antworten muss, beginnt in einer großen Reihe von Fällen regelmäßig auch falsch zu antworten, je nach Antwort der Mehrheit, was er meint zu sagen „sollte“. Das Experiment zeigt die enorme Schwierigkeit der Menschen, sich dem Druck der Mehrheit zu entziehen.
Bundeskanzler Scholz brach derweil auch an der Sanktionsfront die Verzögerung. Der Ausschluss russischer Banken aus dem Swift-System ist in wenigen Stunden erfolgt (obwohl er derzeit nur eine kleine Anzahl von Kreditinstituten zu betreffen scheint). Auch bei der Pipeline Nord Stream 2 läuft es nicht rund: Das gleichnamige Schweizer Unternehmen wäre insolvent und die Mitarbeiter bereits entlassen.
Natürlich haben die Probleme gerade erst begonnen: Deutschland betritt mit dem Rest Europas Neuland. Wie der theoretische Physiker Niels Bohr sagte: „Es ist schwierig, Vorhersagen zu treffen, insbesondere über die Zukunft.“ Wir erwarten, dass die Physik auf dem theoretischen Niveau bleibt, insbesondere was die Masse-Energie-Äquivalenz betrifft.
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