Eine verlassene Stadt mit einem Atomkraftwerk, die seit der Katastrophe von 1986 keiner weiteren Vorstellung bedarf: Tschernobyl, hundert Kilometer von Kiew entfernt, stand am Donnerstag aufgrund des plötzlichen militärischen Interesses Moskaus wieder im Rampenlicht.
Es ist kein Zufall, dass am ersten Tag der russischen Operationen in der Ukraine dieses von allen gemiedene Gebiet besetzt wurde. So strategisch wichtig, dass der ukrainische Präsident Selenskyj twitterte: „Unsere Zuhälter geben ihr Leben, damit sich die Tragödie von 1986 nicht wiederholt.“ Wenige Minuten bevor das berüchtigte Reaktor-4-Kraftwerk samt Verkleidung in russische Hände gelangte.
Die russischen Besatzungstruppen versuchen, das zu beschlagnahmen #Chornobyl_NPP. Unsere Verteidiger geben ihr Leben, damit sich die Tragödie von 1986 nicht wiederholt.“ Er meldete dies an @SchwedischPM. Das ist eine Kriegserklärung an ganz Europa.
– Vladimir Zelensky (@ZelenskyyUa) 24. Februar 2022
Aber warum ist ein so trostloses, gefährliches und unbrauchbares Gebiet so wichtig? Der Grund ist geografisch und praktisch: Es liegt auf der kürzesten Route zwischen dem Putin-freundlichen Weißrussland und Kiew. Damit ist er ein strategischer Kreuzungspunkt für Fahrzeugkolonnen und garantiert Moskau den schnellsten Weg, die ukrainische Hauptstadt militärisch zu besetzen.
Jack Keane, ein ehemaliger Stabschef der US-Armee, der von Reuters interviewt wurde, glaubt, dass Tschernobyl als solches keinen strategischen militärischen Wert hat. Er ist jedoch am besten in der Lage, russischen Truppen zu erlauben, Moskaus Plan umzusetzen und die ukrainische Regierung zu stürzen.
Die Putin-treue Straße aus Weißrussland schließt sich an jene an, die es Russland ermöglicht haben, die Ukraine fast vollständig einzukreisen, beginnend auf der Krim und immer nach Norden, in Richtung der Stadt Charkiw.
Laut James Acton von der „Carnegie Endowment for International Peace“ – einem auf Außenpolitik spezialisierten Forschungszentrum, das ebenfalls von Reuters zitiert wird – befindet sich Tschernobyl in einer sogenannten „Zone der Entfremdung“ und ein Unfall im Innern des Geländes sollte zwar problematisch sein, sollte aber keine Gefahr für ukrainische Bürger darstellen.
Die „Entfremdungszone“ stellt ein Gebiet mit einem Radius von etwa 30 km um das ehemalige Kraftwerk dar, in dem der Aufenthalt verboten ist.
Vier weitere Kernkraftwerke sind in Betrieb
Neben den Überresten des bis zum Jahr 2000 teilweise aktiven Tschernobyl-Standorts sind in der Ukraine vier weitere Kernkraftwerke in Betrieb, die in einer Kriegssituation ein höheres Risiko darstellen. Nach Angaben der Atomkontrollbehörde der Vereinten Nationen arbeiten diese Anlagen derzeit sicher, und selbst in Tschernobyl ist ein militärisches Vorgehen gegen die Infrastruktur ausgeschlossen.
Laut Acton befinden sich die anderen Reaktoren der Ukraine nicht in „Zonen der Entfremdung“ und enthalten viel radioaktiveren Kernbrennstoff. „Die Risiken von Kämpfen in Ihrer Nachbarschaft sind deutlich höher“, schlussfolgert der Analyst.
Die im Gebiet gemessene Zunahme der Strahlung
Im Laufe des Freitags sorgte die Nachricht, dass im Tschernobyl-Gebiet ein Anstieg der Strahlung gemessen wurde, für einige Besorgnis. Allerdings liegen die Werte laut der in Wien ansässigen Internationalen Atomenergiebehörde in einer „Bandbreite“, die man bereits in den letzten 35 Jahren gesehen hat. Der Anstieg könnte durch die Bewegung von Militärfahrzeugen in das Entfremdungsgebiet und die daraus resultierende Verlagerung von radioaktivem Staub vom Boden verursacht worden sein.
Der vierte Reaktor von Tschernobyl explodiert am 26. April 1986 während eines Sicherheitstests und schickt Strahlungswolken über weite Teile Europas. Radioaktives Strontium, Cäsium und Plutonium betreffen vor allem die Ukraine und das benachbarte Weißrussland sowie Teile Russlands und Europas. Schätzungen zur Zahl der direkten und indirekten Todesfälle durch die Katastrophe reichen von einigen Tausend bis zu weiteren 93.000 Krebstoten weltweit.
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