Belästigungen, sei es sexueller oder moralischer Natur, sind in der Schweiz nach wie vor Realität. Allerdings fehlen aktuelle Studien zum Ausmaß des Problems. Um dieses Verhalten zu vermeiden, gibt es in den meisten Berufsbereichen inzwischen gut etablierte Informationsblätter, Leitfäden, Kontaktstellen und Verfahren.
Fast 28 % der Frauen und 10 % der Männer in der deutschen und französischen Schweiz werden im Laufe ihres Berufslebens Opfer sexueller Belästigung am Arbeitsplatz. Dies wurde 2008 durch die bisher einzige in der Schweiz durchgeführte Studie zu diesem Thema bestätigt, die vom Bundesamt für die Gleichstellung von Frau und Mann (BEFH) und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in Auftrag gegeben wurde.
Die im Februar 2022 von BEFH und Seco veröffentlichte Studie „Sexuelle Belästigung in der Schweiz“ zeigt, dass die Straftat sexuelle Belästigung zwischen 2015 und 2020 um fast ein Drittel auf 1.435 registrierte Straftaten zugenommen hat. Ein relativ hoher Anteil der Fälle sexueller Belästigung ereigne sich angeblich am Arbeitsplatz. Aus diesem Grund wird ausdrücklich empfohlen, spezielle Ermittlungsverfahren zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durchzuführen.
Seit 2017 sorgt die #metoo-Bewegung für mehr Aufmerksamkeit für dieses Thema. Laut einer Keystone-ATS-Umfrage in verschiedenen Branchen und öffentlichen Verwaltungen können wir uns kein genaues Bild über den aktuellen Stand dieser Thematik in der Schweiz machen. Auch Berufsverbände und Sozialpartner verfügen über keine verlässlichen Zahlen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz.
Viele Branchen
Seit 2020 sorgen immer wieder Berichte über Sexismus, Mobbing und Belästigung in der Medienbranche für Schlagzeilen. Syndicom und die Schweizerische Medienunion sprechen von einem strukturellen Problem in vielen Medienunternehmen.
Gemäss Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 2017 kommen Persönlichkeitsangriffe und Diskriminierung am häufigsten im Transport-, Logistik-, Post-, Gesundheits-, Sozial- und öffentlichen Sektor vor.
Gesundheitssektor sehr besorgt
Im Gesundheitswesen, wo der Kontakt zu Patienten in der Regel sehr eng ist und zwischen 85 und 90 % der Beschäftigten Frauen sind, geht sexuelle Belästigung in der Regel von den Patienten selbst aus, erklärt Pierre-André Wagner vom Schweizerischen Verband der Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger. Auch im Gesundheitswesen nimmt Mobbing aufgrund der steigenden Arbeitsbelastung des Gesundheitspersonals zu. „Wer Missbrauch meldet, wird von der Hierarchie gefeuert“, sagt Pierre-André Wagner.
„Die Studie von 2008 lieferte uns die statistische Grundlage, die zeigt, dass sexuelle Belästigung ein weit verbreitetes Übel ist, während wir zuvor im Gesundheitswesen nur durch anekdotische Berichte davon gehört haben“, erklärt Pierre-André Wagner. Als Reaktion darauf entstand 2009 der Leitfaden „But it was for fun, let’s see“, der sich an Pflegekräfte und andere Fachkräfte in Gesundheitseinrichtungen richtet und bis heute einer großen Nachfrage unterliegt.
Immer mehr Hilfeanfragen
Von Sexismus und Belästigung betroffene Menschen bitten offenbar zunehmend um Hilfe. Seit 2017 bieten wir individuelle Online-Beratungen in verschiedenen Sprachen, darunter auch Französisch, an belästigt.ch wecken breites Interesse. Im Jahr 2022 werde sich die Zahl der Gesuche verdreifachen, betont Aner Voloder, Projektleiter bei der Gleichstellungsstelle der Stadt Zürich.
Zudem verzeichnet die Organisation einen deutlichen Anstieg der Anfragen von Unternehmen, Führungskräften und Personalverantwortlichen. In der Deutschschweiz können Sie sich auf der Website informieren kmukonkret.chdas in der Romandie keine Entsprechung hat.
verstecktes Mobbing
Sexuelle Belästigung geschieht oft heimlich und ohne Zeugen. Studien belegen, dass die Geheimzahlen von sexueller Belästigung und Mobbing relativ hoch sind. Dies erklärt die Zürcher Rechtsanwältin Claudia Frische auch damit, dass sich die Interessenten etwa im Rahmen eines Strafverfahrens nicht bloßstellen wollten. Darüber hinaus gelten Kommentare oft als „Witze“, die nicht wörtlich genommen werden sollten.
Mitarbeiterbefragungen könnten Aufschluss über potenzielle Probleme in Unternehmen geben. So befragt das Bundespersonalamt (BAPER) im Rahmen einer allgemeinen Personalbefragung alle drei Jahre Mitarbeiter der Bundesverwaltung, ob sie Opfer sexueller Belästigung oder Mobbing sind. Dieser Wert liegt je nach Büro meist bei etwa 1 %. Der Kantonsverwaltung Bern etwa sei „keinen Fall“ bekannt.
Ein Drittel der Unternehmen hat Maßnahmen ergriffen
Die Wahrheit ist, dass das Problem mittlerweile erkannt wird. Im Jahr 2004 hatte laut einer repräsentativen Umfrage des Bundes in Privatwirtschaft und Verwaltung nur ein Drittel der Unternehmen konkrete Massnahmen gegen sexuelle Belästigung ergriffen.
Mittlerweile gibt es in fast allen Branchen und großen Unternehmen Checklisten, Regelungen und Broschüren zu sexueller Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz. Sie sind in der Regel auch online verfügbar.
Auf wenigen Seiten oder in größeren Broschüren werden Sexismus und Mobbing als Diskriminierung verurteilt. Interne und externe Anlaufstellen und Beschwerdestellen werden benannt und das Vorgehen und die Konsequenzen bei Fehlverhalten mehr oder weniger detailliert beschrieben.
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